Die Filmbiographie, die dem mythischen Terroristen Carlos ein Gesicht verleiht, ist elektrisierend, von der ersten bis zur letzten Minute. Und das will etwas heißen: Das Ausnahmeprojekt von Olivier Assayas ist fünfeinhalb Stunden lang. Wie man es dreht und wendet, “Carlos – Der Schakal” ist ein singuläres Filmereignis: 332 Minuten lang, 120 Sprechrollen, 92 Drehtage in zehn Ländern, mehr als 20 Jahre werden abgedeckt, alle Figuren sprechen in ihren Muttersprachen, realisiert als Dreiteiler fürs Fernsehen, aber doch ästhetisch, inhaltlich und formal ein Kinoevent durch und durch, das Konventionen sprengt wie die schillernde Hauptfigur Ländergrenzen überschreitet: selbstverständlich, selbstbewusst, selbstbestimmt. In deutscher Koproduktion mit Egoli Tossell entstanden, greift diese Filmbiographie die von Regisseur Assayas zuvor bereits in “Demonlover” (Wettbewerb Cannes 2002) und – weniger erfolgreich – in “Boarding Gate” Idee eines kosmopolitischen Thrillers, der keine Grenzen kennt und die Welt in ihrer ganzen Vielfalt als faszinierende Einheit begreift, auf und füllt sie mit einem selten gesehenen Realismus: Obwohl mit einem Maximum an filmischem Ideenreichtum und Verständnis für die Möglichkeiten des Kinos realisiert, fühlt sich “Carlos” immer echt an: Man nimmt hautnah an den Ereignissen teil. Assayas hält sich nicht mit umständlichen Erklärungen auf, sondern lässt den Zuschauer die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe begreifen, während er atemlos durch die zahllosen Drehorte rast – ein Unterricht über die Geschichte des internationalen Terrorismus, der aufregender nicht sein könnte. Ilich Ramirez Sanchez, am 12. Oktober 1949 in Caracas geboren, wird in den frühen Siebzigerjahren zum Aushängeschild des internationalen Terrorismus. Mit Aufsehen erregenden, kaltblütigen Aktionen verschafft er der Volksfront zur Befreiung Palästinas Gehör, um dann nach der Gründung einer eigenen Gruppe, geschützt durch verschiedene Ostblockstaaten, in den Wirren der Achtzigerjahre zunächst zum Söldner zu werden, der für den Meistbietenden Bluttaten verrichtet, und schließlich zum Pariah, der von sämtlichen Geheimdiensten gejagt und schließlich 1994 im Sudan verhaftet wird. Olivier Assayas folgt der Blutspur des Mannes, der in den Medien als Phantom einen zweifelhaften Ruhm genießt, beharrlich durch Europa und Afrika – eine Chronologie des Schreckens, die natürlich Vergleiche auch mit “Der Baader Meinhof Komplex” evoziert, Uli Edels beachtlichen Film aber insofern überlegen ist, dass er ein stärkeres Gefühl für Zeit und Raum vermittelt: Er hakt nicht einfach Fakten ab, er setzt sie in ein filmisches Verhältnis, erzählt die Geschichte von Carlos wie die Karriere eines Rockstars, der an der eigenen Hybris scheitert. Er ist damit auch stringenter und weniger introspektiv als der Film, mit dem er am häufigsten verglichen werden wird und mit dem er vor allem in der in Cannes gezeigten Komplettfassung (für die Kinoauswertung hat Assayas auch eine 160-minütige Version erstellt) die Ambition teilt, Steven Soderberghs zweigeteilter Vierstünder “Che”. Er ist eben auch ein Gegenentwurf, ein geradliniger, streng chronologisch erzählter Bilderrausch. Im ersten Teil, der bis zur Vorbereitung des Angriffs auf das OPEC-Hauptquartier in Wien 1975 reicht, zeichnet sich der Film durch eine selten gesehene Rastlosigkeit aus. Das Tempo, mit dem Assayas’ Figuren und Zusammenhänge vorstellt, die Spielorte und die gesprochenen Sprachen wechselt, macht trunken. Teil zwei ist schließlich Höhepunkt der Saga: Fast eine Stunde dauert allein die OPEC-Sequenz, die an Spannung kaum zu überbieten ist. Im dritten Teil ändert sich der Ton wieder, wenn die letzten Jahre Carlos’ thematisiert werden, in denen er ständig auf der Flucht ist, verfolgt von zahllosen Geheimdiensten, finanziert immer wieder von anderen Regierungen: Es ist fast eine Satire auf die beiden vorangegangenen Teile, eine traurige Komödie im Stil von “Der Informant!”, die die Auswüchse des internationalen Terrorismus als Millionengeschäft kopfschüttelnd kommentiert. Titelheld Edgar Ramirez, der in wenigstens fünf Sprachen spielt und förmlich mit Carlos verschmilzt, ist großartig, aber auch Nora von Waldstätten (als eine in einer Reihe ausgezeichneter deutscher Darsteller, darunter Alexander Scheer als Johannes Weinrich, Christoph Bach als Hans Joachim Klein und Julia Hummer als völlig ausgerastete Terrorfrau Gabriele Kröcher Tiedemann) hinterlässt einen bleibenden Eindruck als Carlos’ Mitstreiterin und spätere Frau Magdalena Kopp. Sie können später einmal stolz darauf verweisen dabei gewesen zu sein, bei diesem epochalen Filmereignis: Mehr Kino geht nicht, weder im Fernsehen noch auf der Leinwand. ts.
Originaltitel: Carlos Regie: Olivier Assayas
Darsteller: Édgar Ramírez (Ilich Ramírez Sánchez alias ‘Carlos’), Nora Waldstätten (Magdalena Kopp), Alexander Scheer (Johannes Weinrich), Christoph Bach (‘Angie’ Hans-Joachim Klein), Julia Hummer (‘Nada’ Gabriele Kröcher-Tiedemann), Aljoscha Stadelmann (‘Boni’ Wilfred Böse), Jule Böwe (Heidi), Katharina Schüttler (Brigitte Kuhlmann), Juana Acosta (Freundin von Carlos), Anna Thalbach (Inge Viett), Susanne Wuest (Edith Heller), Rodney El Haddad (‘Khalid’ Anis Naccache), Antoine Balabane (General al-Khouly), Zeid Hamdan (‘Youssef’), Alexander Beyer (Leutnant Wilhelm Borostowski), Maria Kwiatkowsky (Stasi-Informantin)
Produktion: Daniel Leconte Produktionsland: Frankreich/Deutschland Produktionsjahr: 2010 Medienanzahl: 1 Laufzeit: 180 min.
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