Goldene Palme für Michael Haneke: In einem trügerisch ruhigen Horrorfilm deckt er die Grausamkeiten auf, die Menschen sich in einem kleinen Dorf antun. Das Timing hätte nicht kurioser sein können. Während beim 62. Festival de Cannes noch über “Inglourious Basterds” debattiert wurde, konfrontierte Michael Haneke die Filmkritik mit einem deutschen Schrecken ganz anderer Art: Die bevorzugte Waffe des Österreichers ist nunmal nicht der Baseballschläger, sondern das Skalpell. So sublim und bedächtig wie in der deutsch-österreichisch-französisch-italienischen Koproduktion “Das weiße Band”, federführend produziert von X Filme Creative Pool, hat er es allerdings noch nie geführt. “Eine deutsche Kindergeschichte” lautet der Untertitel des in wunderbarem Schwarzweiß gedrehten Films, der Haneke erstmals in die Vergangenheit führt, in ein kleines protestantisches Dorf im Norden des Landes, das in Kürze in den Ersten Weltkrieg eintreten wird. Und tatsächlich sind es die Kinder, die einem am meisten leid tun, während die Männer Brutalität ausüben und die Frauen fliehen, wenn sie können. Meisterlich zeigt der Österreicher, der in Cannes zuvor für “Die Klavierspielerin” den Großen Preis der Kritik und für “Caché” den Regiepreis erhalten hatte, den Alltag in dem Ort, banal, langweilig, scheinbar unauffällig. Ohne sich für eine Hauptfigur zu entscheiden, bewegt sich die Geschichte von Hof zu Hof, etabliert die Strukturen in der Gemeinde, die mit scheinbar unzusammenhängenden Ereignissen konfrontiert wird – ein Reitunfall des Doktors, ein tödliches Unglück einer Arbeiterin, ein Junge wird vermöbelt, ein anderer gequält, Brandstiftung und Selbstmord kommt dazu. Aus der Sicht des unbedarften Dorflehrers erzählt, entfaltet “Das weiße Band” seinen Sog langsam, aber unaufhaltsam: Fast unmerklich deckt Haneke die Grausamkeiten und Brutalitäten auf, die das Zusammenleben in dem Dorf definieren. Wirkten die Unfälle anfänglich wie Fremdkörper, die der Gemeinde wie eine Gefahr von Außen aufoktroyiert werden, realisiert man mehr und mehr, dass sie Ausdruck dessen sind, was hier Alltag ist. Entsprechend werden die Geheimnisse nicht aufgelöst in diesem Horrorfilm des undefinierten Schreckens: “Das weiße Band” will keine Antworten geben, es ist ein Film über eine Stimmung, über das Wesen der Menschen zu einer ganz bestimmten Zeit, die gewisse geschichtliche Entwicklungen unter anderem erst ermöglicht. Es ist der präziseste Film, der jemals über etwas Vages gedreht wurde – und als solches durchaus hypnotisierend, ohne dass Haneke das Tempo jemals erhöhen oder den Rhythmus beschleunigen müsste. Ein Mysterium, weitaus weniger direkt und zwingend als Hanekes elektrisierender Cannes-Vorgänger “Caché”, das erst durch seine Rätselhaftigkeit Antworten gibt. ts.
Originaltitel: Das weiße Band Sprache: Deutsch DD 5.1 Untertitel: Dt. f. Hörg. Regie: Michael Haneke
Darsteller: Christian Friedel (Der Lehrer), Ernst Jacobi (die Stimme des alten Lehrers), Leonie Benesch (Eva), Ulrich Tukur (Der Gutsherr), Ursina Lardi (Frau des Gutsherrn), Fion Mutert (Sigi, der älteste Sohn des Gutsherrn), Michael Kranz (Der Hauslehrer), Burghart Klaußner (Pfarrer), Steffi Kühnert (Frau des Pfarrers), Maria Dragus (Klara, Tochter des Pfarrers), Leonard Proxauf (Martin, Sohn des Pfarrers), Thibault Sérié (Gustl, der kleine Bruder), Josef Bierbichler (Verwalter), Enno Trebs (Georg, Verwaltersohn), Theo Trebs (Ferdinand, Verwaltersohn), Janina Fautz (Erna, Verwaltertochter), Rainer Bock (Arzt), Susanne Lothar (Hebamme), Roxane Duran (Anna, Tochter des Arztes), Miljan Chatelain (Rudi, Sohn des Arztes), Eddy Grahl (Karli, Sohn der Hebamme), Branko Samarovski (Bauer), Birgit Minichmayr (Frieda, Tochter des Bauern), Kai Malina (Karl, Sohn des Bauern), Sebastian Hülk (Max, der älteste Sohn des Bauern), Aaron Denkel (Kurti, Sohn des Bauern), Kristina Kneppek (Else), Stephanie Amarell (Sophie), Bianca Mey (Paula), Mika Ahrens (Willi), Detlev Buck (Evas Vater)
Produktion: Stefan Arndt Produktionsland: Deutschland/Österreich/Frankreich/Italien Produktionsjahr: 2009 Bildformate: 1:1,85/16:9 Mehrkanalton: Dolby Digital 5.1 Laufzeit: 138 min.
Filmpreise: Name: Gilde-Filmpreis Jahr: 2010 Kategorie: Gilde-Filmpreis : Deutscher Film
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