Auf den ersten Blick ist dieser neue Film von “Central Station”-Regisseur Walter Salles ein spannender Blutrache-Thriller, überwältigend fotografiert von Walter Carvalho und gespielt von einem Ensemble fabelhafter Darsteller mit großartigen und für uns unerkannten Gesichtern. Der Film hat eine radikale Kraft, die lange nachwirkt, besonders bei einem Publikum mit einer Vorliebe für die visuelle Sinnlichkeit des lateinamerikanischen Kinos. Eine Fehde um Landbesitz trennt zwei benachbarte Familien in traditioneller Blutrache. Wenn das Blut auf dem weißen Hemd des Toten, das wie ein Fanal vor dem Haus aufgehängt ist, allmählich gelb verfärbt ist, ist die Zeit des Vergeltungsschlags gekommen. Tonho (Rodrigo Santoro), mehr Melancholie und Verzweiflung als Rachegelüste im Blick, muss seinen erschossenen Bruder rächen. Seine Mutter und sein Vater treiben ihn dazu, nur sein jüngerer Bruder Pacu (Ravi Ramos Lacerda), der Erzähler der balladesken Geschichte, stellt ihm kritische Fragen nach dem Sinn der mörderischen alten Tradition. Doch das Blut fordert seinen Tribut, und obwohl es ihn graust vor der Tat, erschießt Tonho den Sohn der Nachbarsfamilie. Womit diese ihrerseits wieder eine Verpflichtung zur Blutrache hat. So ist dieser Teufelskreislauf wahrscheinlich nie aufzuhalten, wenn nicht einer den Mut hat, ihn zu durchbrechen und damit ad absurdum zu führen. Walter Salles lässt diese archaische Geschichte 1910 mitten im Herzen Brasiliens spielen, zeigt das harte Leben von Tonhos Familie, die sich an der einfachen, von Ochsen angetriebenen Zuckerrohr-Mühle täglich abrackert. Und wie ein Lichtstrahl aus einer anderen Welt fällt da die Begegnung des jungen Tonho mit einer Zirkusartistin, die in dem Dorf gastiert und seine ersten Liebeserfahrung wird. Plötzlich sieht er sich mit der Frage konfrontiert, ob er, der als nächster Blutrache-Opfer ist, mit der schönen Clara weiter ziehen, davon laufen soll oder sich dem Tod ausliefern. Salles, der für diese Story einen Roman des albanischen Autors Ismail Kadaré bearbeitete und mit seinem Assistenten Sergio Machado sowie Karim Ainouz das Drehbuch schrieb, lässt seinen Film fast mit der Wucht griechischer Tragödien daherkommen. Doch tatsächlich liegt darin eine hochgradige Stilisierung zur Polit-Parabel von der Ursituation kriegerischer Handlungen. Das so simpel wie kurzsichtig-verantwortungslose Prinzip der Auge-um-Auge-Rache-Aktion regiert immer noch und letztlich immer öfter – wenn nicht die Welt, so doch manche Länder. Die Weltpolitik ist unmittelbar davon betroffen – und deshalb ist Walter Salles’ starker Film nicht nur ein farbtrunkener, opulenter Folklore-Thriller, sondern beunruhigendes Kino großer Gefühle und kritischen Bewusstseins. fh.
Originaltitel: Abril despedaçado Sprache: Deutsch/Italienisch/Portugiesisch Untertitel: Deutsch/Englisch/Engl. f. Hörg./Portugiesisch Regie: Walter Salles
Darsteller: José Dumont (Tonhos Vater), Rodrigo Santoro (Tonho), Rita Assemany (Tonhos Mutter), Luiz Carlos Vasconcelos (Salustiano), Ravi Lacerda (Pacú), Flavia Marco Antonio (Clara), Othon Bastos (Sr. Lourenço)
Produktion: Arthur Cohn Produktionsland: Brasilien/Schweiz/Frankreich Produktionsjahr: 2001 Bildformate: 1:2,35/16:9 Ton: Dolby Surround Mehrkanalton: Dolby Digital 5.1 Laufzeit: 88 min.
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