Für Märchen gibt unsere Wirklichkeit besonders viel her. Um so größer ist die Sehnsucht nach einer Welt, in der es, allen Erfahrungen zum Trotz, nicht so zynisch und selbstgerecht zugeht wie hier und heute. Caroline Link Kästner-Verfilmung, pünktlich zum 100. Geburtstag des Dichters, findet einen frischen, unkomplizierten Ton heutigen Lebensgefühls. Vor allem die beiden kleinen Titeldarsteller sind temperamentvolle, wunderbar emotionale Kinder – in einem unterhaltsamen Film für die ganze Familie, die bestimmt Lust auf anschließende Gespräche bekommt. Geschichten über Heranwachsende, über die Beziehung zwischen Kindern und Eltern sind bei Caroline Links besonderer Sensibilität bestens aufgehoben. Ihr phänomenales Kinodebüt “Jenseits der Stille”, auf Anhieb Oscar-reif, hat sie ganz offenbar prädestiniert für Kästners Roman aus dem Jahr 1931, einer Zeit der Arbeitslosigkeit, in der soziale Unterschiede ähnlich drastisch waren wie im jetzt wiedervereinigten Deutschland. Die Filmemacherin, auch Drehbuchautorin, hat das Original entstaubt und von den Gefahren des Kitsch befreit, erliegt auch nicht dem verniedlichenden Eskapismus der ersten Verfilmung von Thomas Engels aus den Jahre 1953. “Pünktchen und Anton” heute – da ist die Welt nicht mehr einfach schwarz-weiß und gut und böse. Da gibt es auch Grautöne, Differenzierungen und ein klares Bewußtsein gegenwärtiger Wirklichkeit mit genauem Gespür für kindliches Rechts- und Unrechtsempfinden. Luise Pogge, genannt Pünktchen, ist die zehnjährige Tochter gutsituierter Eltern, Vater Herzchirurg (August Zirner), Mutter (Juliane Köhler) für Kinderhilfsorganisation in Afrika aktiv. Anton (Max Felder) geht mit Pünktchen (Elea Geissler) in eine Klasse, beide sind die dicksten Freunde. Weil Anton seine kranke Mutter (Meret Becker) beim Jobben in der Eisdiele vertritt, lassen seine schulischen Leistungen wegen Übermüdung nach, und die seelische Belastung des ohne Vater aufwachsenden Jungen wird immer größer. Pünktchen will ihrem Freund unbedingt helfen, liest erst ihrer Mutter die Leviten und wirft ihr selbstsüchtige Medieneitelkeit vor mit ihrem wohltätigen Engagement. Wie das intelligente Mädchen entschlossen pragmatisch unter die Straßenmusikanten im Münchner U-Bahngeschoß geht, um Geld für ihren Freund Anton und seine Mutter zu “verdienen”, das hat viel Charme und plausiblen Biß. Und daß Anton der Versuchung nicht widerstehen kann und – anders als bei Kästner – zum Dieb wird, ist verständlich und verachtenswert gleichzeitig. Die Moral in der Realität ist nicht einfach, menschliches Verhalten viel zu widersprüchlich, um sich simplifizierend einordnen zu lassen. Caroline Link macht das ganz ohne erhobenen Zeigefinger spürbar und den Aberwitz realer sozialer Konfliktsituationen deutlich. So bekommt Erich Kästners Geschichte von Freundschaft und Loyalität in diesem Film einen angenehm spielerischen Zug, ohne die Ernsthaftigkeit der Thematik zu mindern. Es gibt viel Humor und wie in jeder Komödie viele Mißverständnisse, sogar echte Krimispannung und ein schönes Happy End. Gelegentliche Längen sind verzeihlich – nicht allerdings die aufdringliche Musik von Niki Reiser, die die erzählerische Leichtigkeit oft saucenmäßig eindickt. Musikalischer Glanzpunkt dagegen: Dalida und Alain Delon mit ihrem legendären Hit “Paroles”, mit viel Witz in der richtigen Szene plaziert. “Pünktchen und Anton” ist eine Hommage an die letzten Tage kindlicher Unschuld. fh.
Originaltitel: Pünktchen und Anton Sprache: Deutsch DD 5.1 Regie: Caroline Link
Darsteller: Elea Geissler (Annaluise/ Pünktchen), Max Felder (Anton), Juliane Köhler (Bettina Pogge), August Zirner (Richard Pogge), Meret Becker (Elli Gast), Sylvie Testud (Laurence), Gudrun Okras (Bertha), Benno Fürmann (Carlos), Michael Hanemann (Lehrer Bremser), Helmfried von Lüttichau (Giovanni), Vincent Aydin (Ricky), Florian Wiechmann (Charly), Thomas Holtzmann (Mann im Pfandhaus)
Produktion: Peter Zenk Produktionsland: Deutschland Produktionsjahr: 1998 Bildformate: 1:1,85/16:9 Ton: Dolby Surround Mehrkanalton: Dolby Digital 5.1 Laufzeit: 105 min.
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